Von allen Seiten rollen drei bis vier Meter ho-he Wellen gegen die 91 Meter lange Sea Spirit. Am Morgen sagt mir Marion, sie hätte nicht besonders gut geschlafen. Mir selber ging es etwas besser. Habe
ich doch fast immer und überall und selbst bei grösserem Lärm einen ganz ordentlichen Schlaf. Doch diese Nacht musste ich in meinem Unterbewusstsein jede Welle gezählt haben. Und das waren deren sehr Viele. Denn nach nahezu
neun Stunden «Schlaf» fühle ich alles andere, als ausgeruht. Gleichzeitig macht sich in meiner Magengegend ein flaues Gefühl breit. Was soviel heisst: "Ich bin bestimmt
nicht zum Seemann geboren!" Ich brauche festen Boden unter meinen Füssen. Und weil es Marion offenbar ähnlich ergeht, wie mir und wir gerne herzhaft essen, ohne danach das Essen auf dem
gleichen Weg wieder zurückzugeben, wie wir es kurz zuvor zu uns genommen haben, probieren wir mal unsere mitgeführten, kaugummiartigen Präparate gegen Seekrankheit aus. Für solche Situationen wurden diese Medikamente ja schliesslich
auch geschaffen. Der Pharma sei Dank!
Eigentlich hätten wir Hunger, doch unser erstes Frühstück an Bord will noch nicht so recht hin-unter. Stelle mir vor, dass dies vor ein
paar Jährchen auch so gewesen sein könnte. Heute ist mein Geburtstag. Die Jahre zähle ich besser nicht. Dies tun schon andere liebe Leute für mich. Und in einem Jahr kommt sowieso das nächste obendrauf. Also lasse
ich es lieber. Um die Spuren meines Alterns feststellen zu können, muss ich nur in den Spiegel schauen. Dafür brauche ich keinen Zählrahmen.
Ich weiss, jetzt
denken zu Hause oder irgendwo im fernen Europa sicher ein paar Menschen an mich. Auch dürften in diesem Moment bestimmt einige Gratulationen zu mir unterwegs sein. Doch ich kann diese Gratulationen die nächsten 12 Tage leider nicht
entgegennehmen und schon gar nicht darauf reagieren. Denn wir werden in dieser Zeit mehr oder weniger von der Aussen-welt abgeschnitten sein. Wir werden es bestimmt geniessen! Keine Telefonanrufe, keine schlech-ten Nachrichten
im Fernseher anschauen müssen und kein E-Mail-Stress. Stressless, wie man so schön sagt! Telefonieren, mailen oder/und Fotos um die Welt versenden, seien von der Sea Spirit aus über Satellitentelefon zwar möglich, sagt man
uns. Doch ein einfacher Text und ein Foto dazu würden uns Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Franken (Euros) kosten, warnt man uns gleichzeitig. Und das ist es uns dann doch nicht wert. Also lassen wir es. Ihr könnt ja meine
Berichte und Fotos mit ein paar Tagen Verzögerung immer noch lesen und anschauen.
Wir haben ein echt starkes Expeditionsteam von 15 Mitgliedern auf der Sea Spirit. Expeditionslei-terin
Michaela ist Deutsche; Glaziologin Heidi kommt aus Frankreich und Ma, seines Zeichens Ornithologieprofessor, ist Chinese. Dann haben wir noch Jonathan, ein Spanier, der sich u.a. mit der Geschichte der Antarktis befasst. Und dann sind da noch Sana, eine Finnin,
Christian ein Deutscher, Shelly von Alaska, Ida, Marta und wie sie alle heissen, die auch noch dazu gehören. Ach ja, den Schiffsfotografen John, möchte ich unbedingt auch noch erwähnen.
Zur Verkürzung der eintausend Kilometer langen Drake Passage sind heute gleich vier Vorträge angesagt. Von Ma hören wir, welche Vögel wir die nächsten zwölf Tage voraussichtlich zu sehen bekommen, beziehungsweise uns auf unserer Überfahrt gerade begleiten. Danach gibt uns
Jona-than eine Einführung in die Geschichte der Antarktis. Am Nachmittag spricht John über verschie-dene Grundregeln in der Fotografie. Und kurz danach hält Heidi einen enthusiastischen Vortrag über die Gletscher der Erde und
deren Entstehung.
Hast Du gewusst, dass es auf unserem Planeten rund 200'000 Gletscher gibt? Dass alle kontinen-talen Gletscher (ohne das Grönland- und Antarktiseis) nur gerade etwa
7% des Grönlandeises ausmachen? Das Grönlandeis seinerseits höchstens ein Zehntel der antarktischen Eismasse bil-det? Oder das Eis im Herzen der Antarktis eine Dicke von vier Kilometern aufweist? Und der Kontinent Antarktis flächenmässig
grösser als Europa oder Australien ist?
Auf das allgegenwärtige Thema der Erderwärmung bezogen
und für mich am Spannendsten fand ich Heidi’s Aussage, dass ein Abschmelzen des Grönlandeises einen Anstieg des Meeresspiegels von fünf bis sechs Metern zur Folge hätte. Und käme auch noch das Eis der Antarktis dazu,
dann würde die heutige Welt 60 Meter unter Wasser stehen. Küstenstädte, viele Inseln dieser Erde und Länder wie z.B. Holland wären dann einfach ausradiert. Bei einem solchen Szenario sind Flüchtlingsströme, so wie
wir sie heute kennen, lediglich ein Klacks zu dem, was die Menschheit dann erwarten würde. Hoffen wir also, dass es nie zum Abschmelzen unserer Pole kommt.
Für mich
komplett unerwartet, formiert sich beim Abendessen plötzlich eine kleine Gruppe von Crewmitgliedern mit Saxaphon, Guitarre und Rhythmusinstrumenten; kommen an meinen Tisch, singen mir ein vielsprachiges Happy Birthday auf englisch, philippinisch,
indonesisch und andere mir unbekannten Sprachen und überreichen mir einen Geburtstagskuchen mit einer kleinen, brennenden Kerze darauf. Ist das eine Überraschung! Und die vielen geladenen Gäste, die mich keinen müden Cent gekostet haben,
klatschen und singen mit.
So schwankend wie heute bin ich in meinem ganzen Leben noch nie zu Bett gegangen. Nicht einmal nach einer Geburtstagsfeier. Und dabei habe ich
nicht einmal viel Alkohol getrunken.